Portrait Prof. Dr. Julia Binder
«Nachhaltigkeit als unternehmerischer Mehrwert» Interview mit Prof. Dr. Julia Binder
Julia Binders Forschungsschwerpunkte liegen in der Nachhaltigkeit in Organisationen mit den Schwerpunkten nachhaltige Innovation, zirkuläre Geschäftsmodelle und Unternehmertum. In ihrer Arbeit untersucht sie Prozesse, Strategien und Mechanismen, die es Unternehmen und Managern ermöglichen, wirtschaftliche, soziale und ökologische Auswirkungen bei der Initiierung und Transformation ihrer Unternehmen zu kombinieren. Als Co-Autorin des Buches «Circular Business Revolution», das in Kürze erscheint, bringt sie ihre Expertise im Bereich Kreislaufwirtschaft ein.
Sie lehren an der IMD in Lausanne Sustainable Innovation. Können Sie uns diesen Begriff und die Herausforderungen dazu näherbringen?
Der Schritt hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft ist vielleicht die grösste gesellschaftliche und organisatorische Herausforderung unserer Zeit. Dabei liegt der Fokus auf nachhaltiger Innovation (Sustainable Innovation), die darauf abzielt, ökonomische, soziale und ökologische Mehrwerte zu kombinieren. Diese Innovationen umfassen nach wie vor Prozess-, Geschäfts-, Produkt- oder Dienstleistungsinnovationen, jedoch unter der Prämisse, sie so zu gestalten, dass die Innovationen einen sozialen und ökologischen Mehrwert generieren. Ein spezieller Fokus im Nachhaltigkeitsbereich liegt auf dem Wandel von einer produktorientierten zu einer dienstleistungsorientierten Wertschöpfung. Erfolgreiche Unternehmen werden sich die Frage stellen: Welche neuen Geschäftsfelder eröffnen sich uns? Müssen wir wirklich alle Produkte verkaufen, oder können wir mehr Geschäftsmöglichkeiten und Innovationen generieren, wenn wir unser Angebot auf «Everything as a Service»-Modelle (XaaS) ausweiten und damit vielleicht sogar unser Angebot verbreitern? Dies markiert einen bedeutenden Unterschied zu herkömmlichen Innovationen in der Geschäftswelt.
Beissen sich die beiden Themen «Nachhaltigkeit» und «Innovation» nicht?
Wir erleben derzeit einen grossen Wandel im Denken. Nachhaltigkeit ist ja kein neues Thema, aber in der Vergangenheit haben Unternehmen sie oft sehr getrennt von ihrem Kerngeschäft betrachtet! Um das mal plakativ auszudrücken: Unternehmen haben sich auf ihr Kerngeschäft konzentriert und zusätzlich ein paar Bäume in Madagaskar gepflanzt und gesagt, damit ist unserer sozialen und ökologischen Verantwortung Genüge getan. Nachhaltigkeit wurde also oft stark vom Kerngeschäft abgetrennt. In den letzten Jahren sehen wir jedoch, dass Nachhaltigkeit zunehmend das Kerngeschäft der Unternehmen betrifft. Dies ist der wirklich bedeutende Wandel, den wir gerade erleben. Das ist vergleichbar mit der Digitalisierung – da konnten wir auch nicht einfach sagen, wir machen alles wie gewohnt und fügen ein wenig Digitalisierung hinzu, sondern die Digitalisierung hat das Kerngeschäft grundlegend beeinflusst. Und da spielt Innovation natürlich eine entscheidende Rolle, um diese Erkenntnis strategisch und innovativ umzusetzen und das Thema Nachhaltigkeit anzugehen. Unsere Erfahrungen an der IMD zeigen, dass Nachhaltigkeit trotz des Umdenkens in Unternehmen noch zu wenig strategisch angegangen wird. Es geht nicht nur darum, etwas zu signalisieren, wie es viele «Net Zero Pledges» (Netto-Null-Versprechen ohne Ehrgeiz, Anm. d. Red.) nahelegen, sondern vielmehr darum, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit zu vereinen, um so mehr Potenziale zu erschliessen. Eine spannende Entwicklung, die wir derzeit beobachten, ist die Verbindung von digitalen Technologien und Nachhaltigkeit. Durch die Kombination dieser beiden Transformationsfelder können sich völlig neue Geschäftsfelder auftun. Interessanterweise haben bisher nur sehr wenige Unternehmen dieses Potenzial genutzt. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass viele Unternehmen Nachhaltigkeit nur durch einer Risikolinse betrachten, als Compliance-Risiko, und nicht als Chance zur Differenzierung und Diversifizierung. Für diese Unternehmen ist Nachhaltigkeit lediglich ein Kostenfaktor und damit auch eine verpasste Gelegenheit, Mehrwehrt aus Nachhaltigkeit zu generieren.
Trotzdem, viele Unternehmen sehen Nachhaltigkeit nur als teuer und aufwendig an.
Jede Innovation erfordert Investitionen. Innovation ist immer ein Risiko! Das gilt für jeden Bereich der Innovation, nicht nur für den Bereich der Nachhaltigkeit. Die besondere Herausforderung in der Nachhaltigkeit besteht darin, dass oft völlig neue Geschäftsfelder erschlossen werden, was das Risiko potenziert. Ein weiteres Hindernis bei der Nachhaltigkeit sind die langen Zeithorizonte − nachhaltige Geschäftsmodelle sind zwar langfristig erfolgversprechender, benötigen jedoch in der Regel mehr Zeit als konventionelle Innovationen, um sich am Markt zu etablieren und skaliert zu werden. Heutzutage ist es für einen CEO schwierig, langfristige Engagements zu verantworten, die sich erst in fünf oder zehn Jahren auszahlen. Dies, weil alle drei Monate beeindruckende Umsatzzahlen erwartet werden. Hinzu kommt, dass CEOs keine Anreize haben, ihr Unternehmen in fünf bis zehn Jahren profitabler zu machen. Unser gesamtes Wirtschaftssystem ist nicht darauf ausgerichtet, Innovationen für die Zukunft voranzutreiben. Das ist aus meiner Sicht unsere grösste Herausforderung.
Was bedeutet Nachhaltigkeit für die Lieferketten eines Unternehmens?
Hier findet gerade ein grosser Umbruch statt. Bisher haben Unternehmen oft aus Preisgründen die Produktion in ferne Länder ausgelagert – Hauptsache, kostengünstig produzieren. Doch jetzt ändert sich das, da Regierungen und insbesondere auch die EU viel strengere Anforderungen in Bezug auf Nachhaltigkeit definieren. Unternehmen müssen nun ökologisch-soziale Faktoren berücksichtigen, wodurch die Produktion in Europa wieder interessant wird. In den Lieferketten passiert daher gerade sehr viel, da grosse Unternehmen den Druck, nachhaltig zu agieren, an ihre Lieferanten weitergeben müssen – Stichwort Scope-3-Emissionen (Scope-3-Emissionen umfassen indirekte Treibhausgasemissionen, die durch eine Organisation verursacht werden, aber nicht innerhalb ihrer eigenen Betriebsgrenzen entstehen, sondern entlang ihrer gesamten Lieferkette, Anm. d. Red.). Plötzlich ist ein Lieferant, der eine bessere Nachhaltigkeitsbilanz vorweisen kann, im Vorteil gegenüber einem Lieferanten, der lediglich den besseren Preis bietet. Das kann durchaus auch als Chance für den hiesigen Binnenmarkt betrachtet werden.
Was bedeuten Sustainable Innovation und Business Transformation für ein normales KMU?
Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) stehen im Alltagsgeschäft enorm unter Druck, da ist es oft schwierig bis unmöglich, das Thema Nachhaltigkeit strategisch anzugehen. Dennoch sollten sie den Fokus weg vom reinen Risikodenken hin zu Geschäftsmöglichkeiten lenken. Viele KMU waren auch abwartend bei der digitalen Transformation, aber diese Investitionen haben sich heute ausgezahlt. Das gilt auch für den Bereich Nachhaltigkeit – KMU, die Nachhaltigkeit als Differenzierungschance begreifen, haben klare Vorteile. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass KMU nicht die gleichen Ressourcen wie multinationale Konzerne haben, um sich diesem Thema zu widmen. Daher ist es durchaus nachvollziehbar, dass sie dem Thema häufig eher ablehnend gegenüberstehen bzw. es eher als Risiko betrachten. Trotzdem ist es lohnend, proaktiv an Digitalisierung und Nachhaltigkeit gleichzeitig zu arbeiten. Verbessertes Reporting, optimierte Produktionsprozesse – Digitalisierung und Nachhaltigkeit gehen Hand in Hand und schaffen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, der das Unternehmen widerstandsfähiger und krisenfähiger macht.
Welches Potenzial steckt hinter Reverse Logistics (Rücknahmelogistik)?
Ein faszinierender neuer Markt und ein riesiges Potenzial für die Zukunft. Laut dem Circularity Gap Report 2023 befinden sich nur 7,2 Prozent der Materialien der Weltwirtschaft im Kreislaufzustand! Das bedeutet, dass unglaubliche 90 Prozent unserer Materialien nicht wiederverwendet werden. In Hinblick auf Ressourcenknappheit ist das nicht nur ein ökologisches Desaster, sondern auch ein erhebliches ökonomisches Risiko. Schauen wir uns Nespresso mit seinen Kapseln an, die anfangs massiv kritisiert wurden. Betrachtet man die gesamte Kaffeelieferkette vom Transport bis zum Konsumenten, ist eine Kaffeekapsel aus rein ökologischer Sicht keine schlechte Idee, da der grösste Impact im Kaffeeanbau liegt und exakt dosierter Kaffee aus Nachhaltigkeitssicht Sinn macht. Aber eben nur, wenn die Reverse Logistics dieser Kapseln stimmt und das wertvolle Aluminium später wiederverwendet wird. Nespresso hat hier sehr stark in den Aufbau eines Rücknahmesystems investiert. Der Hauptpunkt besteht darin, schon beim Produktdesign an Reverse Logistics und Kreislaufprozesse zu denken, denn 80 Prozent der «Environmental Impacts» (Umweltbelastungen) werden bereits auf der Design-Stufe entschieden. Und hier fehlt es den heutigen Produktdesignern noch an Wissen und Ausbildung, aber auch an konkreten Unternehmensvorgaben. Reverse Logistics kann dabei nicht isoliert betrachtet werden, sondern erfordert eine systemische Herangehensweise, die die gesamte Wertschöpfungskette berücksichtigt. Dies beginnt, wie bereits erwähnt, beim Design, erfordert jedoch auch neue Investitionen in Infrastrukturen, um Produkte zurückzuholen, zu demontieren und in neue Produktionsprozesse zu integrieren.
Können also Partnerschaften die Kreislaufwirtschaft weiter vorantreiben?
Ja, unbedingt! Das ist aus meiner Sicht sogar entscheidend! Nachhaltigkeit ist kein Single Company Game − umsetzungsorientierte Partnerschaften spielen in der Kreislaufwirtschaft eine wichtige Rolle. Wir benötigen also Partnerschaften, da es nicht möglich sein wird, eine Kreislaufwirtschaft im Alleingang aufzubauen − solche Infrastrukturen müssen gemeinsam entwickelt und umgesetzt werden. Insbesondere Logistikpartnerschaften sind von grösster Bedeutung, um komplexe Rückflüsse von Produkten oder Materialien zu managen. Partnerschaften sind bei radikalen oder systemischen Veränderungen immer spannend, weil sie neue, frische Einsichten und eine andere Sichtweise mit neuen Ansätzen ermöglichen.
Akademische Partnerschaft der Post
In einer Welt, in der jeder Schweizer durchschnittlich 125 Kilo Kartonabfall pro Jahr produziert, gewinnt das Recycling von Papier und Karton zunehmend an Bedeutung. Das innovative Projekt GreenLoop, eine Initiative von den Teams von «Open Innovation & Venturing» und «Kreislaufwirtschaft» stellt sich dieser Herausforderung. Vier Studierende des Masterstudiengangs Nachhaltiges Management und Technologie am Enterprise for Society Center (E4S) nehmen das Kartonrecycling-System der Schweiz unter die Lupe. Ihr Ziel ist es, ein tiefgehendes Verständnis für den Umgang mit Papier und Karton zu entwickeln und Lösungswege aufzuzeigen, wie die logistische Expertise der Schweizerischen Post sowohl ökonomisch als auch ökologisch effizient eingesetzt werden kann.
Das GreenLoop-Projekt demonstriert eindrucksvoll, wie die Kombination aus akademischem Wissen und praktischer Erfahrung zu positiven Veränderungen in unserer Umwelt beitragen kann.