YELLOW – Print lebt!

Print lebt!

05.11.2020 | Text: Mareike Fischer, Fotos und Videos: Pavinithan Puvanenthiran, Entlebucher Medienhaus

Wenn der Jodlerchor aus dem Anzeiger heraussingt, im Bildband die Filmwochenschau von 1944 abzurufen ist oder der CEO über den Geschäftsbericht wandert, dann war das Entlebucher Medienhaus am Werk. Augmented Reality schlägt den Bogen vom Print zum Digitalen: ein Wow-Effekt mit nachhaltigem Kundennutzen.

Rony Bieri, Sie spazieren im Video in Harry-Potter-Manier über den Screen und stellen die Möglichkeiten von Augmented Reality (AR) vor. Wollen Sie als Geschäftsführer des Entlebucher Medienhauses Printprodukten den Rücken zukehren?

Bei uns heisst es nicht Print oder digital, sondern Print und digital. Geschichten erzählen ist unsere Leidenschaft – und mit AR können wir das cross-medial. Die dritte Printausgabe von YELLOW zeigt schön, wie AR neue Kommunikationswege eröffnet und eine Brücke über den vielzitierten Medienbruch spannt.

Wie sah Ihre erste Begegnung mit AR aus?

Um 2009 unsere Strukturkrise zu überwinden, haben wir erfolgreich neue Geschäftsmodelle für das Medienhaus entwickelt. Mit zwei Walliser Kollegen – einem IT-Spezialisten und einem Werber – hatten wir bereits auf einer Webplattform erfolgreich zusammengearbeitet. Die beiden drückten mir eines Tages ein Smartphone in die Hand und liessen mich per App eine mitgebrachte Kiste Wein scannen: Da stand der Weinhändler in 3D vor mir und beglückwünschte mich zu meinem Kauf. Ich war begeistert. Meine Redaktionsleiterin und ich entschieden innerhalb einer Viertelstunde: Da machen wir was draus.

Als Pilotprojekt haben Sie den traditionellen Entlebucher Anzeiger gewählt.

Es mag vielleicht überraschen, dass wir hier im abgeschiedenen Entlebuch den grösseren Schweizer Städten einen Schritt voraus sind. Aber tatsächlich setzen wir seit Mai 2017 als erste Zeitung in der Schweiz AR konzeptionell ein. Unsere Leserinnen und Leser können in jeder Ausgabe in Artikeln über das lokale Geschehen mit der von uns entwickelten EXTRA-App Bilder einscannen und so beispielsweise ein Video oder eine Bildergalerie abrufen. Gekennzeichnet sind die AR-Inhalte durch ein Icon, einen Marker, der auf die Landingpage führt. AR schafft Mehrwert für das Printprodukt, denn die exklusiven Zusatzinhalte findet man auf keiner Website.

Augmented Reality ist bei uns im Entlebuch Standard.

Rony Bieri, Geschäftsführer Entlebucher Medienhaus

Sie haben rund 7500 Abonnentinnen und Abonnenten, 7000 Mal wurde die EXTRA-App heruntergeladen. Wird sie regelmässig genutzt? 

Sehr oft! Und das, obwohl unsere Leserschaft nicht mehr ganz so jung ist. Bei der Entlebucher Alpabfahrt verzeichnen wir fast jedes Jahr mehr als 1000 Scans pro Bild! Aber unsere App funktioniert eben einfach und niederschwellig. Schnell das Handy draufhalten und die Zeitung zum Leben erwecken, das macht mehr Spass, als eine Website zu suchen und sich bis zur Bildergalerie durchzuklicken. Auch Inserate, die über die App Mehrwert bieten, stossen auf Interesse. Ein schöner Nebeneffekt: Unsere Lokalkorrespondenten – oft Pensionierte, die über Veranstaltungen berichten und ein kleines EXTRA-Video aufnehmen – werden häufig auf ihr Engagement angesprochen und entwickeln sich richtiggehend zu beliebten Dorf-Promis. 

Und jetzt entwickeln Sie AR-Anwendungen auch für andere Kunden. 

Unser Know-how geben wir über die XTEND interactive GmbH Druckereien, Agenturen und Geschäftskunden weiter. Das Startup hat seinen Sitz im Entlebucher Medienhaus, wir sind auch Teilhaber. Für überregionale Kunden haben wir die XTEND-App entwickelt, die sich auf das Erscheinungsbild der Kunden branden lässt. Globus, Ringier und Roche beispielsweise haben für die XTEND-App eigene Icons verwendet. 

Welchen Nutzen bringt AR diesen Unternehmen?

Da ist zunächst mal der Wow-Effekt: Sie überraschen mit Ihrem Druckprodukt, heben sich von der Konkurrenz ab und bleiben so potenziellen Kunden in Erinnerung.

Emotionen wecken, Response generieren: Das kann AR.

Rony Bieri, Geschäftsführer Entlebucher Medienhaus

Und über den Überraschungseffekt hinaus?

Mit erweiterten digitalen Inhalten erwecken Sie Druckprodukte zum Leben und lösen Emotionen aus. Und über «Call-to-Action»-Buttons können Sie die Nutzer auf der Customer-Journey direkt weiterführen: zum Wettbewerb, zur Bestellung von Unterlagen, zum Kauf eines Produkts oder zur Anmeldung für einen Event.

Das sorgt für Response: Die Generalagentur Willisau-Entlebuch der Mobiliar Versicherung lud mit einer augmentierten Einladung zu einer Wanderung ein – und erzielte mit 600 Anmeldungen ein überwältigendes Echo.

Was für andere spannende Projekte haben Sie umgesetzt?

Der Kreativität sind fast keine Grenzen gesetzt: So trompeteten in einem Jubiläumsbuch für den Zirkus Knie die Elefanten von den Seiten. Der Ringier Jahresbericht 2017 war mit AR-Elementen gespickt, die die Tätigkeiten des Medienhauses darstellten – und wurde mit dem European Excellence Award ausgezeichnet. In einem Buch über das tragische Schiffsunglück von 1944 auf dem Vierwaldstättersee können Sie über die App die historische Wochenschau abrufen. Mit der Uhrenindustrie erarbeiten wir AR-Lösungen, mit denen man virtuell eine Uhr am Handgelenk anprobieren kann. Diese Technologie wird noch sehr viel bieten – wir stehen erst am Anfang.

Das hört sich nach aufwendigen Imageprojekten an – geht es auch eine Nummer kleiner?

Natürlich. Eine Einladung zu einer Tagung: App draufhalten und sich direkt anmelden. Das Inserat eines Autohauses: scannen und eine Probefahrt vereinbaren. Oder ganz aktuell: Weil unsere Generalversammlung wegen Corona nicht stattfinden konnte, haben wir den Geschäftsbericht augmentiert und so «live» zu unseren Aktionären gesprochen. Allerdings sah man uns an, dass die Coiffeursalons noch geschlossen hatten! Auch ein einfaches Mailing lässt sich mit AR kostengünstig digital veredeln: Darin kann sich zum Beispiel die neue Kundenberaterin per Video vorstellen.

Mit einem Mailing müssen Sie Ihr Zielpublikum aber erst einmal erreichen …

Ja, und da kommt natürlich die Post ins Spiel. Ohne zuverlässige Zustellung nützt das kreativste Mailing nichts. Das gilt auch für unseren Entlebucher Anzeiger: Unsere Leserinnen und Leser reagieren sehr empfindlich, wenn die Zeitung nicht im Briefkasten liegt – besonders unsere rund 2500 Heimweh- Abonnenten, die nicht mehr im schönen Entlebuch wohnen. Aber die Zusammenarbeit mit der Post funktioniert vorzüglich.