Interview mit Michael Lewrick

Illustration Netzwerkeffekte

Illustration Netzwerkeffekte

Interview mit Michael Lewrick «Am Ende ist es egal, ob die Kundenkommunikation über das Ökosystem oder mein Portal läuft.»

Text Stefan Kern | Illustration Studio I like Birds

Das Denken in Ökosystemen stellt bisher bekannte Sichtweisen auf den Kopf und verlangt einen «radikalen Mindshift», wie Dr. Michael Lewrick sagt. Im Interview mit YELLOW spricht der internationale Bestsellerautor über expo­nentielle Wachstumschancen und darüber, warum sich KMU lieber heute als morgen mit dem Thema auseinandersetzen sollten.

Wie unterscheiden sich Business-Ökosysteme von der heutigen Lehre der Betriebswirtschaft?

Im klassischen Ansatz definiert man einen kompetitiven Vorteil und positioniert sich am Markt. Das hat die letzten Jahrzehnte gut funktioniert. Aber die Kundenbedürfnisse haben sich geändert. Unternehmen müssen heute viel komplexere Probleme lösen. Für die erfolgreiche Erbringung eines Wertversprechens reichen die eigenen Kernkompetenzen, Produkte und Services meist nicht mehr aus.

Dann können Unternehmen ihr Portfolio doch einfach durch externe Lieferanten erweitern?

In einer klassischen Kunden-Lieferanten-Beziehung integriere ich externe Services in mein Angebot. Im Business-Ökosystem-Design geht es um die Integration unterschiedlichster Fähigkeiten – von einzelnen Teilangeboten bis hin zum Kundenzugang. Ziel ist, durch die Nutzung von Netzwerkeffekten einen Wechsel von linearem zu exponentiellem Wachstum zu realisieren.

Wie können Unternehmen von solchen Netzwerkeffekten profitieren?

Netzwerkeffekte entstehen, indem auch andere Akteure einen Kundenzugang erhalten. In einer klassischen Kunden-Lieferanten-Beziehung haben Firmen jeweils nur Zugang zu ihren eigenen Kundinnen und Kunden.

Warum fällt es Unternehmerinnen und Unternehmern schwer, in Bezug auf die Kundenschnittstelle umzudenken?

Man spürt in allen Branchen den Wunsch, diese Kundenbeziehung zu halten und nicht mit anderen zu teilen. Sehr viele erfolgreiche Ökosysteme konnten den Ansatz eines exklusiven Kundenkontakts hinter sich lassen. Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger hängen oftmals zu stark an ihren etablierten Vorstellungen von Wachstum.

Wie gelangen Unternehmen aus dieser «Denkfalle» hinaus?

Unternehmen müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, nicht ein bestehendes Produkt in den Mittelpunkt zu stellen, sondern das komplexe Kundenproblem. Wichtig ist, in «Ecosystem Journeys» der Kundschaft (gemeint sind die unterschiedlichsten Kundenreisen innerhalb eines Ökosystems, Anmerkung der Redaktion) zu denken. Das geht weit über die Optimierung der bestehenden Berührungspunkte der «Customer Journey» hinaus. Es braucht Transparenz, Offenheit und Mut, um sich auf neue Marktrollen in einem Business-Ökosystem einzulassen.

Nicht alle Unternehmen verspüren den gleichen Druck, sich mit Ökosystemen auseinanderzusetzen. Nehmen einige die Realität falsch war?

Weltmarktführer von spezifischen Produkten verspüren keinen grossen Druck, sich mit Ökosystemen auseinanderzusetzen. Wenn ich die besten Schneeschaufeln der Welt baue, brauche ich im Einkauf zwei Komponenten: Holz und Stahl. Die fertige Schaufel verkaufe ich über Retailer. Hierfür benötige ich meist kein Ökosystem. Ich habe ein Produkt mit einem klaren Kundennutzen. Betroffen sind Firmen in einem Umfeld, in dem sich Kundenbedürfnisse radikal verändern und Anbieter mit neuen Angeboten am Markt in Erscheinung treten.

Die Post hat unter anderem mit der ePost-App den Weg der Ökosysteme beschritten. Wie sind diese ersten Gehversuche zu beurteilen?

Ein Business-Ökosystem muss per se keine App sein. Eine App ist ein Kanal und Kundenzugang. Erfolgreiche Business-Ökosystem-Initiativen starten meist mit limitierten Angeboten. Wir sprechen hier von «Minimum Viable Ecosystems» (gemeint sind Ökosysteme mit einem Angebot, das gerade so gross ist, dass sie «lebensfähig» sind, Anmerkung der Redaktion). Funktioniert die Zusammenarbeit im System und die Kundinnen und Kunden nehmen die Leistungen an, ist der Grundstein gelegt, um das Ökosystem zu skalieren und das Wertversprechen sukzessive mit weiteren Produkten, Akteuren und Leistungen anzureichern.

Beim Stichwort «Ökosysteme» denken die meisten an Technologiegiganten wie Google oder Amazon. Weshalb geht das Thema auch traditionell geprägte Firmen etwas an?

Die Googles und Amazons dieser Welt wurden durch das Internet geprägt. Auch sie durchlaufen aktuell eine Transformation – und wollen weg von der Plattform­ökonomie hin zu offenen Ökosystemen. Heute wird Wettbewerb auf den Plattformen zugelassen. Eine solche Transformation können auch Firmen durchlaufen, die nicht durch das Internet geprägt wurden.

Beispielsweise KMU?

Ja, auch. Es gibt immer die Möglichkeit, an einem regionalen oder nationalen Business-Ökosystem teilzunehmen. KMU können mit ihren Leistungen ein Teil der Ökosystem-Initiative werden, beispielsweise von der Post oder von KLARA. In diesen Ökosystemen gibt es Komponenten, mit denen KMU ihre Leistungen hauptsächlich im lokalen Kontext einbringen können.

Warum soll eine Versicherung oder ein Telekommunika­tionsanbieter bei der ePost-App mitmachen, wenn bereits ein eigenes Kundenportal besteht?

Ziel sind sogenannte «Lock-in-Effekte». Beziehen Kundinnen und Kunden über ein Ökosystem vielfältige Leistungen, steigt die Hürde, wieder herauszutreten. Dies verlängert den Kundenlebenszyklus. Als Versicherung ist der direkte Kundenzugang über ein Kundenportal ohnehin nicht von hoher Relevanz. Wer besucht täglich das Kundenportal seiner Versicherung? Am Ende sollte es für mich als Versicherung egal sein, ob meine Kundenkommunikation über das Ökosystem läuft oder über mein Kundenportal. Wichtig ist, dass die jeweiligen Wertströme auf den Geschäftserfolg einzahlen und das Ökosystemkapital aller am System beteiligten Akteure steigt.

Sie unterrichten an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Wie lange wird es dauern, bis die Theorie des «Business-Ökosystem-Designs» an den Universitäten und Fachhochschulen vermittelt wird?

Design Thinking, die kundenzentrierte Denkweise, hat rund 50 Jahre gebraucht, bis sich europäische Unternehmen darauf eingelassen haben. Hoffen wir, dass es bei der Umsetzung von Ökosystem-Designs nicht nochmals so lange dauert.

Herr Lewrick, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.